Gastbeitrag von alt Bundesrat Moritz Leuenberger*: Schriftliche Fassung seiner Ansprache zum Thema «Digitalisierung und Kultur», gehalten anlässlich der Feier zu 30 Jahre Zürcher Datenschutzstelle im Kanton Zürich am 28.1.25 im Landesmuseum.
Alle Kulturen werden seit jeher durch Technologien geformt. Vorgestern vom Rad, gestern vom Buchdruck, heute von digitalen Techniken. Sie beeinflussen das Denken, das Fühlen, das Wollen, das Können. Sie prägten und prägen so auch unsere Werteordnungen in moralischen und ethischen Fragen.
So beeinflusst die Gentechnologie die öffentliche Einstellung gegenüber Eltern von Kindern mit Erbkrankheiten: Sie brachten, so die unterschwellige Anklage, behindertes Leben zur Welt, obwohl sie das doch hätten verhindern können. Was früher ein Schicksalsschlag, verbunden mit Mitleid war, wurde zum moralischen Vorwurf, pränatale Eingriffe nicht genutzt zu haben.
Auch die DNA – Technologie brachte eine moralische Wandlung: Vor 50 Jahren herrschte die Meinung vor, ein Samenspender soll anonym bleiben. Die erziehenden Eltern, also die sozialen Eltern, seien die wirklichen Eltern. Heute ermöglicht DNA, praktisch jeden biologischen Vater zu ermitteln. Davon wird ausgiebig Gebrauch gemacht und so ist es heute selbstverständlich, nach den biologischen Eltern zu suchen. Die gesellschaftliche Auffassung rückt die biologische Abstammung wieder in den Vordergrund und die sozialen Eltern wieder in den Hintergrund.
Digitalisierung ist mehr als eine Technologie…
Nicht anders ist es bei digitalen Technologien.
Der Begriff «Digitalisierung» umfasst den ganzen Prozess, wie digitale Technologien die Welt durchdringen und wie sich diese dadurch verändert, durch Suchmaschinen, Smartphones, soziale Medien, durch die Globalisierung der Märkte, durch die Eliminierung von Distanzen, zeitlichen und geografischen.
Das Gewebe von neuen Subtechnologien und von gesellschaftlichen Veränderungen ist derart dicht geflochten, dass Ursachen und Wirkungen kaum auseinandergehalten und nicht zugeordnet werden können.
…und Kultur umfasst mehr als nur die schönen Künste.
Es gibt auch die Kulturen des Essens, des Gesprächs, des Umgangs miteinander.
Es gibt verschiedene Kulturen der politischen Ästhetik. Sie unterscheiden sich je nach Ausgestaltung einer Demokratie: Die Inthronisation des englischen Königs, und die Annahme der Wahl durch ein neues Mitglied des Bundesrats lassen sich kaum vergleichen. Die kürzliche Antrittsrede des Präsidenten der USA wiederum ist als solche unvergleichlich mit denjenigen seiner Vorgänger geworden. Der Stil ist das eine, die Anwesenheit der Eigner der prägendsten Technologien das andere.
Digitalisierung und Kunst im engeren Sinne
Kunst hat immer schon Technologien in Anspruch genommen und gerne mit ihnen gespielt, auch in analogen Zeiten. Jede neue Technik wurde und wird freudig und eifrig eingesetzt: Auf den Theaterbühnen der Antike wurde der deus ex machina von einem Kran auf die Bühne gehisst. 1835 wurde das Trockeneis erfunden und sofort eifrig für Nebel auf der Bühne verwendet.
Heute werden Headsets, Ober- und Untertitel, Drehbühnen, Videoinstallationen genutzt. Zuweilen sind in Inszenierungen wichtiger als der Inhalt des Stückes.
Sie wie analoge Techniken nicht aus der Kunst wegzudenken sind, sind es digitale Techniken auch nicht mehr:
In der Oper Zürich wurden, während der Zeiten von Corona, Chor und Orchester um einige Kilometer vom Opernhaus entfernt versetzt und ihre Musik per Glasfaser in den Saal mit dem Publikum übertragen. Auf der Bühne sangen nur die Solistinnen und Solisten.
Das wurde prompt als «Totenglocke der Oper» angeprangert, denn diese sei doch ein Gesamtkunstwerk. Doch: Wäre es besser gewesen, vor Corona zu kapitulieren? Die Metropolitan in NY tat das und schloss für ein Jahr vollständig. In dieser Zeit war die Operngemeinde in NY tot, in Zürich konnte sie leben, dank digitaler Technologien.
Diese sind mehr als ein erleichterndes Hilfsmittel. Ohne sie könnten viele Werke gar nicht erst entstehen
Im Kunsthaus Zürich ist derzeit ein Werk von Refik Anadol ausgestellt.
Dazu sind hundert Millionen Bilder verwendet worden, in deren Strudel man zuerst erst mal Halt sucht, um nicht abzustürzen. Der Künstler nutze dazu KI, die er «seinen digitalen Pinsel» nennt.
Von Raoul Schrott erschien Ende letzten Jahres der «Atlas der Sternenhimmel», ein Buch darüber, wie sich vor 60’000 Jahren rund um die Erde siebzehn verschiedenen Völkergruppen siebzehn verschiedene Sternenhimmel zeigten. Die verschiedenen Wahrnehmungen je aus verschiedenen Positionen führten zu siebzehn verschiedenen Göttern und Göttinnen, zu siebzehn völlig andersartigen Sagen und Mythen über die Entstehung der Menschheit. Nur Computerprogramme konnten ermitteln, wie sich diese verschiedenen Sternenhimmel vor 60’000 Jahren zeigten. Die Recherchen waren nur dank digitalen Hilfsmitteln möglich, nur dank ihnen konnte das Buch überhaupt entstehen.
Doch digitale Techniken ermöglichen künstlerische Werke nicht nur,
digitale Technologien werden auch selbst zu Kunstwerken.
Im Netz gibt es virtuelle Häuser in virtuellen Städten, virtuelle Kleider, virtuelle Bilder. Sie können nicht berührt, nicht bewohnt, nicht an einer Wand aufgehängt, nur im Netz gesehen werden. Die Objekte der Begierde lagern nicht mehr im analogen Kunstkeller, sondern im unendlichen virtuellen Kunsthimmel. Dennoch können sie dank einer digitalen Technik, NFT, als Unikat erworben werden. Das Unikat des digitalen «Mars House» kostete USD 500’000.
Um virtuelle Kunst und um die NFT entstand ein Hype mit der Folge, dass digitale und virtuelle Kunst als Synonym verwendet werden. Ob das stimmt? Gab es virtuelle Kunst nicht schon in früheren Zeiten?
Virtuelle Kunst und reale Kunst
Was ist das Kriterium zwischen virtueller und realer Kunst?
Die Verkäuflichkeit oder der Marktwert sind es nicht, denn das Unikat des Mars Hauses, das es nur im Netz gibt, kann der Eigner weiterverkaufen. Das heisst: virtuelle und reale Kunst sind gleichermassen handelbar.
Ist es die Materialität, also dass man ein Bild aufhängen kann oder nicht?
Dann bliebe ein echter Picasso so lange virtuell, als er im Tresor der CS lagert. Man kann ihn in dieser Zeit nicht aufhängen und den Partygästen zeigen.
Ist es die Eigenschaft, die einem Bild zugeschrieben wird, die Aura, die es verströmt? Die angeblich heilenden Kräfte einer Reliquie macht diese für alle, die daran glauben, real, für die Ungläubigen ist sie virtuell.
Ist ein Gegenstand für diejenigen virtuell, die ihn wegen des irreal hohen Preis nicht erlangen können? Für ein Paar rote Schuhe aus dem Filmmusical «The Wizard of Oz» wurden für 32,5 Millionen Dollar bezahlt. Die Schuhe sind real, aber ist es auch der Preis?
Ob virtuell oder real:
Für Künstlerinnen und Künstler bringt Digitalisierung neue Rahmenbedingungen.
Spotify hat den Musikmarkt revolutioniert und damit die ganze Musikwelt. Die Ausrichtung auf den Weltmarkt bringt neue Hör- und Sehgewohnheiten, neue Erwartungen an die Werke mit sich. Andere Kulturen vermischen sich mit einheimischen. Einheimische Kultur rezipiert solche, die sich durch Film, soziale Medien oder Television weltweit verbreitet. Das wiederum führt zu neuen Rahmenbedingungen für Künstlerinnen und Konsumenten.
Sie wurden von der Stiftung für Technologiefolgen Abschätzung (TA-Swiss) in einer dreiteiligen Studie untersucht, die letztes Jahr herausgegeben wurde. Dort ist (unter anderem) dargelegt, welche neuen Regelungen sich im Urheberrecht, im Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht aufdrängen, wie neue Formen des Eigentums an Kunstwerken entstehen (small contracts) oder wie neue Eigentumsbegriffe wachsen, zum Beispiel der Besitz auf Zeit, welcher eine Künstlerin oder ein Künstler vorgeben kann. Dazu kommen die Dominanz der englischen Sprache, der Trend, einen Song mit einem Video zu visualisieren oder der Druck zur Kürze eines Beitrages.
Alle diese Veränderungen im Netz wirken sich auch auf die analogen Bühnen aus: Dort werden Künstler bevorzugt, die durch das Internet und in den sozialen Medien bereits bekannt sind; sie erst vermögen ein Theater zu füllen. Sie haben sich zuvor den Bedingungen des Netzes angeglichen und damit auch ihre Kunstform. Eine eigentliche Spotifyzierung der Musikszene ist zu beobachten, auch der schweizerischen.
Das hat auch Auswirkungen auf Vereine in der Schweiz, etwa auf Gesangs- oder Blasmusikverbände und damit auf die kulturelle Vielfältigkeit, eine der Grundlagen unserer sprachlichen, regionalen und nationalen Identität. Vielen kulturellen Akteuren sind diese Umwälzungen kaum bewusst. Sie können die Möglichkeiten der neuen Technologie oft gar nicht richtig nutzen und verlieren so an Präsenz. Sie sind aber eine wesentliche Stütze der eidgenössischen Kultur.
Die Digitalisierung als gesellschaftlicher Prozess führt zu weiteren Veränderungen, die sich unmittelbar auf die Welt der Kunst und Kultur auswirken.
Kulturjournalismus
Die Entwicklung weg von den Printmedien hin zu sozialen Medien ist für Kunst und Kultur nicht ohne Folgen. Professioneller Kulturjournalismus schwindet und wird durch individuelle, spontane Reaktionen in sozialen Medien ersetzt. Diese bilden neue Gemeinschaften, etwa auf Kommunikationsplattformen von Gleichgesinnten in einer Blase ohne Debatten. Sie steigern sich gegenseitig in Entrüstungsstürme (mit oder ohne Influencer-Marketing). Das führt zu inflationärer Moralisierung gefolgt von kulturellem Boykott, «Cancle Cultur» statt kulturellen Dialogs.
Ein weiteres Phänomen in digitalen Zeiten:
Binäres Denken: Wo liegt die Ursache?
Wir leben in einer bipolaren Zeit, in Zeiten des «Entweder Oder», der Reduktion auf schwarz und weiss. Permanent werden wir in ein binäres Entscheidungskorsett gezwungen. Umfragen, Befragungen, selbst Prüfungen, von der Fahrprüfung bis zum universitären Lizenziat, erfolgen in multiple choice Verfahren. Wir haben die Wahl zwischen vorgegebenen Antworten, nicht aber die Möglichkeit, selbst eine solche zu formulieren.
Diese Methode hat auch die Kulturszene erfasst. Das Schauspielhaus Zürich startet nach jeder Vorstellung eine Umfrage per Mail im multiple choice Verfahren:
«Ich fand die Inszenierung: von «ausserordentlich gut» bis «überhaupt nicht gut» (Benotungsskala von 6 – 1) Es folgt ein «Rating»:
Wie bewerten Sie Regie, Kostüme, Schauspieler*innen (Diese kann man nicht einzeln bewerten, nur alle zusammen.) Schliesslich: Würden Sie die Inszenierung in Ihrem Bekanntenkreis weiterempfehlen: Ja oder Nein?»
Ja oder nein? Nichts dazwischen! Das ist zwar nicht neu. Im Theater selbst gibt es das seit Jahrhunderten: Entweder «Bravo» oder «Buh». Sozialwissenschaftlich würden wir den Wandel wohl so formulieren:
«Die archaische Spontanreaktion weicht einer postanalogen Multiple Choice Evaluation und gestaltet so einen diskursiven Resonanzraum auf der digitalen Metaebene.»
Diese Reduktion auf vorgegebene Schablonen überträgt sich auf das Kunstschaffen selbst, indem uns immer öfter eine einzige mögliche Interpretation eines Werkes eingepaukt wird. Das widerspricht aber dem Genom von Kultur. Das ist kaum Kultur, sondern Politik mit dem Vorschlaghammer.
Ein Merkmal der Kunst ist, dass sie erkundet, ertastet, interpretiert und diskutiert werden muss.
Ist Digitalisierung nun Dienerin oder Dirigentin der Kultur?
Techniken, die mit eigener Intelligenz ihre Schöpfer überwinden, sind seit Jahrhunderten ein Thema von Literatur und Film: «Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.», Čapeks «Krieg der Molche» oder Kubriks «Odyssee 2001».
Drohen die Albträume real zu werden?
Es ist nicht in erster die Technologie, die beunruhigt.
Der gesellschaftliche Prozess der Digitalisierung besteht aus vielen Treibern.
Das Machtstreben der Techno-Oligarchen nach weltweiten Monopolen. Sie wurden letzte Woche zusammen mit ihrem Präsidenten vereidigt. Programmierer, die sich ihrer eigenen gesellschaftlichen Vorurteile gar nicht bewusst sind. Und es ist die willige und unkritische Unterwerfung der Anwender unter vorgegebene Programmierungen: «Wie hast du geschlafen?» – «Moment, ich schaue auf der Apple Watch nach.» Wir sind Vollzugorgane von Algorithmen geworden.
All diese Treiber reduzieren das Wesen des Menschen auf seine Gehirnströmungen, die mit Algorithmen als Prothesen verbessert, beschleunigt und effizienter gestaltet werden können. Aber Empathie, Fantasie, Kreativität, Unterbewusstsein, Eigenverantwortung machen den Menschen ebenfalls aus.
Dieses Menschenbild findet sich im Grundwasser der Kulturen, das durch Religion und Tradition genährt wird. Dieses Grundwasser zu schützen und zu stärken, ist eine politische Aufgabe. Ich gebe zu, nicht eine einfache.
* Moritz Leuenberger: 1946 geboren. Rechtsanwalt. 1974 bis 1983 Gemeinderat (Parlament) der Stadt Zürich, 1979 bis 1995 Nationalrat, 1991 – 1995 Regierungsrat des Kantons Zürich, Vorsteher der Direktionen des Innern und der Justiz. 1995 bis 2010, Bundesrat, Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), Bundespräsident 2001 und 2006. 1972 bis 1980 Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich. 1986 bis 1991 Präsident des schweizerischen Mieterverbandes. Von 2015 bis Ende 2022 Leiter TA-Swiss (Stiftung für Technikfolgen Abschätzung)